Wolfgang Bauer
Der Rüssel. Szenische Texte aus dem Nachlass.
ISBN: 978-3-85415-530-0288 Seiten, brosch., erschienen 2015,
herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Antonic
Wolfgang Bauers Drama „Der Rüssel“ (1962), das bis vor kurzem – abgesehen von einer einzigen Szene – als verschollen galt, ist eines der frühesten und konsequentesten Beispiele des Theaters des Absurden in deutscher Sprache. Im alpinen Setting um eine Bauernfamilie namens Tilo mit ihren drei erwachsenen Enkelsöhnen, um die junge Braut Kellerbirn Anna, Bürgermeister Trauerstrauch, Kaplan Wolkenflug & Co. verändern sich infolge Klimaerwärmung Flora und Fauna: Palmen sprießen, metergroße Riesenschnecken spenden Gaumenfreuden. Ein aus dem Gebirgsbach geborener Elefant verkeilt sich mit seinem Rüssel im Haus der Tilos; dieser wird zur Touristenattraktion und schließlich zum Streitobjekt auf Leben und Tod. Bei all seinem grotesken Witz offenbart Wolfgang Bauers erstes abendfüllendes Bühnenstück existenzielles und gesellschaftliches Grauen von höchster Aktualität.
Der Band enthält weiter die Erstdrucke des Einakters „Der Abrater“ und des Hörspiels „Zisterne“ sowie – hier erstmals in Buchform publiziert – die Boulevard-Komödie „Von der Steinschleuder zum Lipizzaner“ und das Mikrodrama „Odysseus“, womit bisherige Editionen von Bauers szenischem Frühwerk komplettiert werden.
Unter dem Eindruck der erstmals in den 1960er-Jahren breiter diskutierten globalen Erwärmung fabuliert der junge Dramatiker von einer klimatischen Metamorphose, die aus den Alpen eine tropische Welt zaubert. „Der Rüssel“ ist irrwitziges Klimawandeltheater, ein erschreckend zeitgemäßes Gleichnis zum Zustand der Welt. Denn mit dem Klimawandel kippt im gezeigten Bergdorf auch das gesellschaftliche Gefüge, für das sich in seiner Primitivität von Anfang an der Ausdruck „Bananenrepublik“ aufdrängt. Schlimmer noch: Die holzschnittartige Heimatfilmhandlung verkehrt das koloniale Weltbild ins Gegenteil, hier sind die Herren der Jägerhütte Ureinwohner – und der Dorfpfarrer initiiert Lynchjustiz, indem er mit dem Jagdgewehr wider die Überfremdung des christlichen Abendlandes auftritt. Auch da greift Bauers Text jedem Regietheater-Zugriff vor und errichtete ein Bezugssystem, das an Brisanz schwer zu überbieten ist.
(Hermann Götz, in: “Falter” 35/15)
“Der Rüssel” steht, wie das ganze Bauersche Frühwerk, unter dem Einfluss des absurden Theaters: “Die Tragödie in elf Bildern” liest sich, als hätte Ionesco ein Bauerndrama verfasst.
(Wolfgang Kralicek, in: “Theater heute” 11/15)