Sebastian Kiefer
„DICHTE ICH IN WORTEN, WENN ICH DENKE?“ – Ferdinand Schmatz oder: Nur der „Avantgardist“ kann Romantiker sein
ISBN: 978-3-85415-460-0610 Seiten (Inhalt: Band 1 u. 2), brosch., erschienen 2012
Wenn wir eine Diskussion führen, einen Vortrag hören, uns selbst oder einen anderen Menschen zu beschreiben versuchen, einen Zeitungsartikel oder einen Vers lesen – was geschieht in unserem Geist, während wir sprechen und andere (oder uns selbst) sprechen hören?
Die Dichtung von Ferdinand Schmatz kann wie keine sonst diese Prozesse des Bewusstseins beim Sprechen zurückholen. In seinen Gedichten sehen wir nicht durch das Bewusstsein und die Sprache “hindurch” auf die Dinge; wir benutzen Sprache nicht, um etwas zu “bezeichnen”. Der Leser nimmt mit Leib und Ohren wahr, wie sich eine “Außenwelt” aus dem vielstimmigen Geschehen allererst herausbildet – aber nie ganz das Tönen, Tasten und leibliche Tun verleugnet, aus der sie hervorgegangen ist.
Es sind alte Träume von einem Zustand, in dem Sprachlogik und Leib, Selbst und Ding noch keine unvereinbaren Sphären waren, die den “Avantgardismus” des Dichters Ferdinand Schmatz hervorbrachten. Diese Dichtung, eine der ganz wenigen, die einen eigenständigen Begriff von Sprachkunst heute geschaffen haben, lehrt lustvoll: Nur wer die exakte Erforschung der Bewusstseinsfunktionen während des Sprechens nicht scheut, kann jene alten poetischen Träume heute wahr machen – ohne Regression, Attitüde und Wiederholungszwang.
Ein zentrales Anliegen des Essays von Sebastian Kiefer über Ferdinand Schmatz besteht nun auch darin, jene teils verschütteten Zusammenhänge zwischen Avantgarde und Romantik sichtbar zu machen. Kiefers beeindruckende Argumentation erschließt dem Leser sein eigenes, oft verdrängtes Empfindungs- und Vorstellungsvermögen während des Lesens. Analyse ist hier keine “Interpretation”, sondern eine Anleitung zur gesteigerten und verfeinerten Wahrnehmungsempfindung. Zuletzt erhellen sich Ferdinand Schmatz’ Gebilde aus sich selbst.
(…) Ein so staunen-, ja ehrfurchtgebietendes Buch wie dasjenige Sebastian Kiefers hebt das Maßstäbe setzende Werk Ferdinand Schmatz` … auf den denkbar höchsten Sockel. Ihm zugrunde liegt der Glaube, daß es ein Dichten geben müsse, das vollkommen bodenlos ist. Es wäre fluide und fest, prozeßhaft und gesteuert zugleich. Das Tun eines Dichters erschiene diesem selbst komplett plausibel. Zugleich müßte er von einer Überraschung zur nächsten taumeln. ( ...)
(Ronald Pohl, in: „Der Standard / Album“ , 2. 2. 2013)
Ein großer Wurf – sowohl dem Umfang nach (zwei Bände, über 600 Seiten) als auch dem geistigen Radius; ein deutlicher Vorwurf auch an jene Literaturwissenschaft und -kritik, die über die Dinge der Dichtkunst lediglich metaphorisch spricht, ohne die neuen Erkenntnisse empirischer Wissenschaftem wie Sprachwissenschaft, Kognitions- und Emotionsforschung, Evolutionsbiologie zur Kenntnis genommmen zu haben. Kiefers Untersuchung ist eine der bemerkenswertesten literaturtheoretischen Veröffentlichungen der letzten Jahre, und zu wünschen wäre, dass sie – trotz mancher ‚Unbequemlichkeiten‘ – viel gelesen und diskutiert würde.
(Jürgen Engler, in: Die Horen, 256)
(…) Nicht in allen Feinheiten muss man der Terminologie, Methodik und den einzelnen Ergebnissen Kiefers zustimmen, um von dem vorliegenden Buch begeistert zu sein. Kiefers monumentales Werk ist ein wahrer Fundus, nicht nur zu Schmatz und der neueren deutschsprachigen Dichtung, sondern auch zu einer großen Bandbreite theoretischer Fragen, die für die philologischen und geisteswissenschaftlichen Disziplinen von grundlegender Relevanz sind. Was Kiefers Werk im deutschsprachigen Raum wohl einzigartig macht, ist nicht nur seine beeindruckende Textkenntnis (nicht nur Schmatz`) und die Virtuosität, mit der er auf diese die verschiedensten theoretischen Perspektiven appliziert, das alles in einer zwar mitunter verschachtelten, jedoch auf unnötigen terminologischen Schwulst verzichtenden Diktion präsentierend. Vielmehr ist es vor allem seine fehlende Furcht davor, aus textlichem Material, d. h. mit geisteswissenschaftlichen Methoden, gewonnene Einsichten anhand aktueller Errungenschaften „naturwissenschaftlicher“ Disziplinen zu überprüfen oder zumindest die Wege zu einer solchen Zusammenführung von Geistes- und Naturwissenschaften aufzuzeigen. Damit gelingt es ihm in weit eindrucksvollerer und produktiver Weise, an sich getrennte Großdiziplinen einander näher zubringen als vielen der sich programmatisch „transdisziplinär“ oder „interdisziplinär“ nennenden akademischen Projekte, bei denen allzu oft lediglich Disziplinen“ juxtaponiert werden, ohne in eine wirkliche Beziehung zueinander gesetzt zu werden.
(Michael R. Heß, in: „Göttingische Gelehrte Anzeigen“, 2016, Heft 3/4)