Urs Jaeggi
WEDER NOCH ETWAS. Roman
ISBN: 978-3-85415-427-3176 Seiten, brosch., erschienen 2009
Franz, in der DDR leitender Betriebsingenieur und Laienschauspieler, inzwischen Kellner in den ICEs der Deutschen Bahn, wird Jahre nach der Wiedervereinigung von einem französischen Journalisten interviewt. Rebecca, seine Frau und eine erfolgreiche Schauspielerin, war als überzeugte Kommunistin 1989 mit dem gemeinsamen Sohn in ihre schweizer Heimat zurückgekehrt: Wenn schon im Kapitalismus leben müssen, dann dort, wo er seit Ewigkeit funktioniert, nicht in den frisch besetzten Ostgebieten. Franz jedoch, zwischen den Stühlen der politischen Systeme und seiner Lebensentwürfe in ihnen geblieben, schlägt sich mit wechselnden Berufen unter Wert durch die Nachwendezeit, versteckt dabei schon mal eine Gruppe illegal eingereister Türken und bringt sie in seinem Gartenhäuschen unter. Er ist ein Flaneur und Nachtschwärmer, der nie zur Ruhe kommt, weder in seinem Geburtsort Halle noch dem nunmehrigen Wohnsitz Fulda, das er auf der Suche nach den verschwundenen Illegalen durchstreift.
Wie die Züge das Land durchmessen, so durchquert der in ihnen kellnernde Franz sein bisheriges Leben: beiläufige Blicke auf vorbeihuschende Vergangenheiten, Halte- und Wendepunkte, an denen er aus- oder umsteigt, um sich nachgehen zu können. Er imaginiert künstliche Intelligenzen, träumt vom Verschwinden des Menschen im Erschrecken vor all der gelebten Ortlosigkeit, die ihm indessen ebensoviel neue Kraft schenkt, wie seine Angst davor ihm zu rauben vermag. Eine Reise nicht nur durch sich auflösende Biografien, sondern durch eine auseinanderfallende Gesellschaft mit all ihren trennenden Sprachen.
Jaeggi ist ein genauer Beobachter der Zersplitterung einer Innenwelt, der die Geschlossenheit des Außen gründlich genug abhanden gekommen ist, um sich im Durcheinander neu zu konstituieren: stets an der Grenze zur Selbstzerstörung, aber immer lebendig genug, uns die eigenen Blicke zu öffnen.